Venezuela: Der Unterricht fällt aus. Wegen Hunger, Gewalt, Chaos.

Chaos, Krise und Gewalt in Venezuela:

Für Schüler kann es hier lebensgefährlich sein, zur Schule zu gehen. Viele riskieren es trotzdem – auch wenn nicht sicher ist, ob überhaupt ein Lehrer auftaucht.
Maria Arias, 14, packt ihr Notizbuch in den Rucksack. Dann macht sie sich auf den Weg zur Highschool. Die Jugendliche lebt in Caracas, der Hauptstadt Venezuelas, die den Ruf als gefährlichste Stadt der Welt hat. Das ganze Land steckt in einer Krise. Hier in die Schule zu gehen und zu lernen, ist eine Herausforderung.

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Um zur Highschool zu kommen, muss Maria durch enge Straßen laufen, in denen so viel Gewalt herrscht, dass sich kein Taxi hierher verirren würde. Die Schülerin hat schon Raubüberfälle, Plünderungen und Lynchjustiz auf offener Straße erlebt. Einmal bedrohte ein Mann direkt neben ihr eine Frau mit einer Waffe, um deren Ehering zu stehlen.
Die 14-Jährige nimmt den riskanten Weg trotzdem immer wieder auf sich, weil sie hofft, dass wenigstens einer ihrer Lehrer in der Schule sein wird.
Aber an diesem Tag fällt schon die erste Stunde um 7 Uhr aus. Der Kunstlehrer hat sich krank gemeldet. Auch Geschichte wurde abgesagt. Sport findet nicht statt, weil der Lehrer vor einigen Wochen erschossen wurde. Und der Spanischlehrer schickt die Schüler am Nachmittag nach Hause, damit sie die Ausgangssperre einhalten. Die gibt es wegen der Bandenkriminalität.

“Du riskierst dein Leben für die Schule”

“Du steckst in der Falle”, sagt Maria. “Du riskierst dein Leben, um hierherzukommen, und dann sitzt du hier, wartest und verbringst den Tag mit Nichtstun. Aber du musst weiterhin hierher kommen, denn die Schule ist der einzige Weg, um aus der ganzen Misere herauszufinden.”
Es geht keineswegs nur um einen einzigen verschenkten Schultag. In Venezuela fällt der Unterricht immer wieder aus. Das Land befindet sich in einem Notstand. Die Wirtschaft in dem Staat, der eines der reichsten Ölvorkommen weltweit besitzt, bricht zusammen. Die Kriminalität nimmt stetig zu. Lebensmittel sind knapp. Menschen warten in langen Schlangen vor Supermärkten, in denen es kaum noch etwas zu kaufen gibt.
All dies legt auch das Schulsystem Venezuelas regelmäßig in weiten Teilen lahm. Für Schüler aus ärmlichen Verhältnissen wie Maria schwindet damit die einzige Chance auf ein besseres Leben.
Nach offiziellen Statistiken wurde der Unterricht im Land seit Dezember an 16 Tagen abgesagt, inklusive der Freitage, an denen seit April regulär kein Unterricht stattfindet, um angesichts der Energiekrise im Land Strom zu sparen.
Warteschlange vor einem Supermarkt in Venezuela
Elternverbände schätzen aber, dass Schüler in Wirklichkeit deutlich mehr Unterricht verpasst haben: im Durchschnitt 40 Prozent. Das liege unter anderem daran, dass rund ein Drittel der Lehrer nicht zum Unterricht erscheine. Die Lehrkräfte müssen – wie so viele andere Menschen – in Warteschlangen anstehen, um an Essen oder Medikamente zu kommen.

Schlange stehen statt lernen

Auch Maria geht an manchen Tagen nicht zur Schule, weil sie die seltenen Gelegenheiten nutzen muss, in denen gerade irgendwo zum Beispiel Milch oder Gemüse verkauft wird. Sie stellt sich dann stundenlang an, in der Hoffnung, dass überhaupt noch etwas da ist, wenn sie an die Reihe kommt. Es ist ein Kampf ums Überleben.
Rund jedes vierte Kind fehlte in diesem Jahr in der Schule, weil es unter Hunger litt, berichtet die Forschungsgruppe Foundation Bengoa. An Marias Schule sind bereits viele Schüler ohnmächtig geworden, weil sie mit leerem Magen im Klassenzimmer saßen. Die Schulleitung empfahl den Eltern deshalb: Lassen Sie Ihre Kinder zu Hause, wenn Sie nicht genug zu essen haben.

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Gewalt ist ebenfalls ein Dauerproblem. Selbst ist die Schule ist kein sicherer Ort für Kinder und Jugendliche. An Marias Schule wird jeden Morgen nach Unterrichtsbeginn das Tor verriegelt – zum Schutz vor Kriminellen. Trotzdem schaffen es immer wieder bewaffnete Gangs, oft selbst noch Teenager, ins Gebäude einzubrechen und Schüler zu überfallen. “Ich habe jeden Tag Angst”, sagt Maria.

“Dieses Land lässt seine Kinder im Stich!”

Die Folgen dieser Misere sind noch nicht absehbar. “Dieses Land lässt seine Kinder im Stich. Wenn wir eines Tages die vollen Konsequenzen sehen, wird es zu spät sein, noch etwas zu ändern”, sagte Adelba Taffin, Sprecherin einer Elternvereinigung. In Venezuela ist mehr als ein Drittel der Bevölkerung jünger als 15 Jahre.
Dabei hatten die Schulen in Venezuela noch bis vor einigen Jahren in Südamerika einen vergleichsweise guten Ruf, auch weil Präsident Hugo Chávez, der bis 2013 regierte, Bildung im Sinne einer sozialistischen Revolution als hohes Gut propagierte. Vor allem aber profitierte das Land stark vom Ölpreisboom – und pumpte Geld ins Schulsystem.
Innerhalb weniger Jahre wurden die Fortschritte jedoch zunichte gemacht. Fachleute führen das unter anderem auf stark gefallene Ölpreise und jahrelanges wirtschaftliches Missmanagement zurück. Einige machen auch den Regierungswechsel und Chávez Nachfolger Nicolas Maduro zumindest mitverantwortlich.

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Immer mehr Jugendliche brechen die Schule ab
Das Schulsystem liegt jedenfalls am Boden. Millionen Schüler an öffentlichen Schulen leiden darunter. Die Rate der Schulabbrecher hat sich verdoppelt. Mehr als ein Viertel der Jugendlichen ist gar nicht in einer Schule angemeldet.
In Klassenzimmern herrscht eklatanter Personalmangel, weil immer mehr Lehrer aus dem Land fliehen oder auch den Job wechseln. Der Lohn an öffentlichen Schulen reicht kaum zum Überleben. Viele Gebäude sind heruntergekommen, auch Marias Schule.

Kein Zeugnis, weil die Mittel fehlen

Weil es in den Sanitärräumen kein fließend Wasser gibt, nutzen Schüler Klassenräume mit Löchern im Boden als Not-Toiletten. Die Schulmensa bleibt geschlossen, weil es weder Essen noch Gas zum Kochen gibt. Maria und ihre Mitschüler haben kein Zeugnis bekommen. Die Schule hat nicht die Mittel, um sie zu drucken.
Gleichzeitig liegen 30.000 Schulbücher noch verpackt und ungeöffnet in der Aula. Die Regierung hat die Bücher Anfang des Jahres geliefert. Aber nach Auffassung der Lehrer sind sie unbrauchbar – weil sie zu viel pro-sozialistische Propaganda enthalten.
An manchen Tagen ist Maria so verzweifelt, dass sie denkt, wenn sie sich vor die Bahn werfen würde, wäre sie alle Sorgen los.
Venezuelas Eltern versuchen, ihren Kinder so gut es geht durch die schwierigen Zeiten zu helfen. Aber oft fällt es ihnen selbst schwer, die Missstände hinzunehmen. Marias Mutter, Aracelis, sagt: “Venezuela muss etwas Schreckliches verbrochen haben, um so bestraft zu werden.”
Quelle: Hannah Dreier/AP/fok

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